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Cannes 2012: Holy Motors von Leos Carax

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Wenn sich ein Film eine eigene Welt aufbaut und den Zuschauer ganz und gar überwältigt, dann spricht sich das rum. HOLY MOTORS von Leos Carax gehörte mit Sicherheit zu den Filmtiteln, die man am häufigsten aus Journalistenmündern hörte.Holy Motors, Foto: Cannes Film Festival/EPA

Carax zog sich vom Filmemachen zurück, um uns eine umso heftigere Bombe vor die Augen zu werfen. Der einstige Kritiker der Cahiers du Cinéma wurde in seiner cineastischen Anfangsphase durch Filme wie BOY MEETS GIRL (1984) oder MAUVAIS SANG (1986) ins Unermessliche gelobt und dann nach LES AMANT DU POINT-NEUF (1991) von Kritikern und Kinogängern fallen gelassen. Ein erneuter Aufstieg gelang ihm auch mit Pola X (1999) nicht. Seit dem drehte er ein paar Kurzfilme, unter anderem das fantastische Segment MERDE des Episodenfilms TOKYO! (2008), bei dem Michel Gondry und Jooh-ho Bong ebenfalls mitwirkten. Immer dabei und alter Ego von Carax ist der großartige Schauspieler Denis Lavant. Carax’ neuer Film HOLY MOTORS ist ein Genuss für alle, die vom Kino wachgerüttelt, entführt und überwältigt werden wollen:

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Wir erleben einen Tag im Arbeitsleben von Monsieur Oscar (Denis Lavant). Er wird von der Familie verabschiedet, verlässt sein Haus, steigt in eine weiße Limousine und bekommt einen Auftrag. Er frisiert eine graue Langhaarperücke und die erste Transformation von vielen beginnt: Aus Monsieur Oscar wird eine grauhaarige, bekopftuchte Bucklige, die an einer Pariser Brücke um Almosen bettelt. Nach dieser Episode sitzt Monsieur Oscar wieder im Wagen, seine Chauffeurin Céline (Edith Scob) gibt ihm die Mappe mit der nächsten Job-Beschreibung und sieht ihm mit einem Lächeln beim Aussteigen zu: Mittlerweile hat er einen schwarzen mit Detektoren beklebten Ganzkörperanzug an und marschiert in eine Art Fabrikhalle, wo wir ihn in fast absoluter Dunkelheit beim Kampftraining für einen Motion Capture -Clip sehen. Kurz darauf gesellt sich eine blonde, ebenfalls in Body Suit gehüllte Gegenspielerin zu ihm. Gemeinsam vollziehen sie ein Paarungsritual, das auf einem Bildschirm als Computeranimation sichtbar wird.

Monsieur Oscar wird im Laufe des Films in weitere Rollen schlüpfen. Mal trollt er als “Merde” halb Pan halb Gnom über einen Friedhof, stopft sich hastig Blumen in den Mund, hüpft über Grabsteine, auf denen die Webseiten der Verstorbenen eingraviert sind, um kurz darauf ein Model (Eva Mendes) von einem Fotoshooting hinab in die Pariser Kanalisation zu entführen.

Ein anderes Mal wird ihm aufgetragen, einen Mann umzubringen, der zuletzt aussieht, wie er selbst. Seine Performance lässt wohl zu Wünschen übrig, denn ein Auftraggeber (Michel Piccoli) sitzt bald darauf mit ihm in der Limousine und fragt ihn, ob er mit seinem Job zufrieden sei. Was zählt, sei die Schönheit der Geste, antwortet Monsieur Oscar.

Doch wer ist eigentlich Monsieur Oscar? Ist er vielleicht Vater einer jugendlichen Tochter, die er von ihrer ersten Party abholt? Oder ist er vielleicht der ehemalige Liebhaber jener Frau (Kylie Minogue), die ihn in ein verlassenes Kaufhaus führt, um sich kurze Zeit später vom Dach in den Tod zu stürzen? Die Grenze zwischen ihm und seinen Rollen ist flüchtig. Jedenfalls steckt viel vom Filmemacher selbst in dieser mysteriösen Figur.

Leos Carax, der mit gebürtigem Namen Alexandre Oscar Dupont heißt, zeigt ohne zu erklären. Er schickt uns in eine Welt, in der Maschiene, Tier und Mensch im Schatten zunehmender Unsichtbarkeit existieren. Dabei bedient er sich filmischer Referenzen, die sich sowohl aus seinem eigenen als auch aus dem Werk anderer Filmemacher speisen. Die gnomhafte Figur, die Denis Lavant bereits in MERDE verkörpert hat, tobt in HOLY MOTORS wieder durch die Gegend und die zarte Chauffeurin Céline, die am Ende des harten Arbeitstages ihre Limousine in eine Sammelgarage namens Holy Motors fährt, setzt sich zum Abschluss eine Maske auf, wie Edith Scob sie in Georges Franjus Klassiker LES YEUX SANS VISAGE bereits getragen hat. Die Frau auf dem Dach des Kaufhauses sollte erst mit Juliette Binoche statt mir Kylie Minogue besetzt werden und kann als Anmerkung zu LES AMANTS DU POINT- NEUF gelesen werden, ebenso wie eine Sequenz zu Beginn jenes Films, als der junge Alex (Denis Lavant) von einem Bekannten gemahnt wird, er solle sein Leben leben, schließlich habe er nur eines. Nach HOLY MOTORS hat man jedenfalls das Gefühl, man habe mehr als nur einen Film gesehen.

Leos Carax präsentiert uns hier ein bizarres Feuerwerk, das über den rein visuellen Effekt hinausreicht, das bis zum Schluss mysteriös bleibt und dennoch ungemein gehaltvoll ist. Wer diesen Film schlicht als Cinema du look bezeichnen will, tut ihm unrecht.

Und kann man HOLY MOTORS nicht auch als Gegenstück zu CESARE DEVE MORIRE (2012), dem auf der Berlinale 2012 mit dem Goldenen Bären prämierten Film der Taviani Brüder sehen? Dort Gefangene, die durch das Spiel etwas Freiheit erlangen, hier ein Spielender – gefangen in seinen Rollen, in seinen Leben?

Man ahnt es: Dieser Film beschwört die Interpretationsgier, kann aber genauso gut auch einfach als Kino in reinform genossen werden.

Kinostart in Deutschland ist der 30. August 2012.


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